Heimat 2

Ein Groden ist ein Gebiet, das im Zuge der Neulandgewinnung der Nordsee abgetrotzt wurde. Mitarbeiter des Küstenschutzes errichten Buhnen, das sind Dämme aus Holz und Reisig, im rechten Winkel zur Küste gebaut, an denen sich Sand, Treibgut und Steine ablagern. Im Verlauf von vielen Jahren und Jahrzehnten wird aus diesen Ablagerungen, wenn alles gut läuft, neues nährstoffreiches Land, auf dem Ackerbau und Viehzucht betrieben und gesiedelt werden kann. Das ist die Kür. Die Pflicht ist bereits erfüllt, wenn die Buhnen dazu beitragen, die hungrige See daran zu hindern, sich mehr und mehr Land einzuverleiben.

Weiter westlich und in Nordfriesland heißen diese Gebiete, die früher einmal deutlich nasser waren als heute, Polder oder Koog. Aldenburg, der Stadtteil von Wilhelmshaven, in dem ich aufgewachsen bin, liegt im Maadebogen zwischen Heiligengroden, Altengroden und Fedderwardergroden. Die Maade, genauso wie die quer zu ihr verlaufenden Rinnsale, zeugen nicht nur vom menschengemachten Ursprung des Landes, sondern dienen nach wie vor einem wichtigen Zweck, nämlich möglichst viel Wasser dahin zu transportieren, wo es hin gehört: zurück ins Meer.

Wenn man in einem Groden aufwächst, wächst man mit nassen Füßen, klammen Klamotten und Flugrost am geliebten Fahrrad auf. Man lernt schnell, dass Meteorologen auch nur Menschen, und das einzig Beständige Tag, Nacht, Ebbe und Flut sind. Verlass ist nur auf die Tide. Und darauf, dass man Kluntje nur zerbeißt, wenn man keinen gesteigerten Wert auf den Fortbestand seiner Milchzähne legt.

Der Gezeitenkalender bestimmte in großen Teilen unser Leben. Er entschied darüber, wann Schulausflüge stattfanden, wie lang das Wochenende auf den Inseln war, wann es zum Schwimmen ging und wie anstrengend der Fußweg dahin sein würde. Niedrigwasser war demzufolge – zumindest im Sommer – immer eine arge Spaßbremse. Im Herbst und Winter drehte sich der Spieß um und der Protagonist der Schwimmer wurde zum respektierten, wenn nicht gefürchteten, Gegenspieler für Autofahrer, Gärtner und Besitzer unterkellerter Häuser. Stehen die Wellen hoch am Strand, bedeutet das im Sommer jede Menge Spaß beim Body Boarden und Surfen. Im Winter brüllen die Brecher laut und deutlich „fahr deine Karre vom Südstrand weg – JETZT!“

Die Nordsee ist im Sommer ein völlig anderes Wesen als im Winter. Sie verändert ihre Farbe, ihren Klang, ihren Geruch. Mit ihr verändern sich die Landschaft und die Menschen, die mit ihr zusammen leben. Sattes Grün und endloses Blau werden zu tristem, undurchsichtigem Grau. Inspirierendes Rauschen wird zu einschüchterndem Grollen, der Duft von Salz, aufgeheizten Felsen und Sand zum Gestank nach Tod und Verwesung; beredte, geschäftige Sonnenanbeter zu wortkargen Einsiedlern.

Wer noch keinen Winter an der Nordsee verbracht hat, kennt die Nordsee nicht. Es gibt Zeit und es gibt Sommerzeit. Das wahre Wesen der Nordsee offenbart sich, wenn man Zeit mit ihr verbringt. Im Sommer erscheint sie uns als Spiegelbild des Himmels, im Winter zeigt sie ihr wahres Gesicht. Mal schwarz und tranig jedes am Ufer geflüsterte Geheimnis kilometerweit forttragend. Mal weiß und zornig jeden Liebesschwur niederbrüllend. Jeder, der schon einmal im Juni und im Januar mit einem kleinen Boot bei gleichen Wind- und Wellenbedingungen auf die Nordsee rausgefahren ist, weiß, dass diese vermeintlich gleichen Bedingungen in der Tat völlig unterschiedlich sind. Im Januar ist das Wasser unter dir ein anderes, der Himmel über dir ein anderer. Der Horizont ist näher dran, Untiefen und Felsen in Unschärfe versunken. Das leise Plätschern der Wellen gegen den Rumpf hat einen schärferen Ton, ist eher ein Nagen als ein Streicheln. Das Blasen von Schweinswalen dicht am Boot eher eine Moritat als eine Ode an die Freiheit.

Die Nordsee macht die Regeln. Die Nordsee gibt und nimmt wieder. Die Nordsee ist das allmächtige Wesen, das uns trägt und über uns steht. Das hat mich von Kindesbeinen an fasziniert. Wahrscheinlich haben Menschen, die in den Alpen aufgewachsen sind, ähnliche Gedanken zu Bergen. Kann ich nicht beurteilen. Ich bin an der See aufgewachsen. Ich bin weg gegangen. Ich war jedes Jahr wieder da. Nicht in Wilhelmshaven, sondern in Norwegen. Gleiches Meer andere Küste.

Hier in den Vier- und Marschlanden fühle ich mich wieder näher dran an Friesland. Marschland ist Neuland. Es gibt Gräben. Gräben und nasse Füße. Blaugrüne Weite und graue Enge, die die Haustür von außen zudrückt. Es gibt Silberreiher und Ringelgänse, Kormorane und Regenpfeifer. Es gibt Nachbarn, die plötzlich im Hausflur stehen und einfach nur „hassu ma’n Ei“ sagen. Es gibt den Sturm, der ungebremst an den Fenstern zerrt, und es gibt diese Momente, wenn am Ende der Wiese der Horizont goldrot aufreißt, um dir zu zeigen, wo du hingehen musst.

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