Sechs, setzen: Bildungschancen in Deutschland

Nur etwas mehr als 50% der Viertklässler in Deutschland erreichen noch die Regelstandards in den basalen Kompetenzbereichen Lesen, Zuhören, Orthografie und Mathematik. 18-30% verfehlen je nach Bereich sogar den Mindeststandard. Erschreckende Zahlen, so Ende 2022 veröffentlicht im IQB Bildungstrend 2021. IQB ist das Akronym des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt Universität Berlin. 

Nicht nur in der Momentaufnahme, auch in der Entwicklung ist es um die Qualität der Bildung derzeit alles andere als gut bestellt. Die oben genannten Zahlen sind seit 2016 im Schnitt zwischen 8-10 Prozent gesunken. Heißt, es sah schon vor 7 Jahren schlecht aus und jetzt noch einmal schlechter. Obwohl alle vorgewarnt waren. 

Wie kann das sein? Wie kann es passieren, dass es in einem halben Jahrzehnt kein einziges Bundesland schafft, mit entsprechenden Maßnahmen gegenzusteuern und diese desaströsen Werte zu verbessern? Allein Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz konnten „relative Stabilität“ erreichen, heißt, sich in Relation zu allen anderen, die sich dramatisch verschlechtert haben leicht verbessern. Bewegt sich der Zug, oder bewegt sich der Bahnsteig? Das kommt ganz auf die Perspektive an. 

Der sprichwörtliche Zug ist für die wenigen Experten und Kommentatoren, die es wagen sich mit dem Thema öffentlich auseinanderzusetzen indes schon abgefahren. So schreibt der ehemalige Kultusminister Sachsen-Anhalts Stephan Dorgerloh am 18.10.2022 im Spiegel: 

„Die Bildungskatastrophe nimmt mit diesen Grundschulergebnissen ihren Ausgang. Wir wissen, dass diese frühen Defizite in den folgenden Schuljahren kaum mehr aufgeholt werden.“ 

Ähnlich alarmiert äußert sich Bildungsforscher Olaf Köller gegenüber der Welt im November letzten Jahres. Er beklagt, dass sich das Bildungssystem auf das Niveau von PISA 2000 zurückentwickelt habe, eine „Katastrophe“. Auch er ist sich sicher: 

„Das holen die Kinder nie wieder auf.“ 

Ebenso erschreckend wie die Entwicklung selbst, ist die Tatsache, dass die Veröffentlichung der IQB-Zahlen keinen größeren Aufschrei nach sich zog. Also eigentlich gar keinen. Im Dezember veröffentlichte die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) schließlich ein Gutachten mit dem Titel „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“. Basis für das Gutachten: Der IQB-Bildungstrend. Wie die Autoren der Studie kommen auch die Mitglieder der SWK zu dem Schluss, dass die Wurzel des Problems nicht im Lernen an der Grundschule, sondern deutlich davor zu verorten ist: im eklatanten Mangel an systematischer Diagnostik und differenzierter Förderung in den Kitas. Die Weichen für den späteren Bildungserfolg werden nämlich schon vor dem Eintritt in die Primarstufe gestellt. Das weiß auch Katrin Prien, die 2022 KMK-Vorsitzende war. Sie sagt: 

„Wir investieren in Deutschland zu wenig in den Elementarbereich. Bereits in der Kita müssen wir insbesondere den Erwerb und die Förderung von Deutsch als Bildungssprache und Vorläuferfähigkeiten im Bereich Mathematik in den Blick genehmen.“ 

Anders ausgedrückt: Dass für die Hälfte der Schüler in Deutschland in der 4. Klasse feststeht, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt keine allzu großen Chancen ausrechnen dürfen, verdanken sie dem Umstand, dass im Kindergarten keine ordentliche Erhebung und Einordnung ihres Sprachstandes, ihrer schulischen Grundfähigkeiten und Entwicklungsverläufe und eine entsprechende Evaluation des Förderbedarfs stattgefunden hat. Heißt: Sie hatten schon bei der Einschulung keine Chance mehr. Das ist nicht nur eine Schande. Das ist der Grund dafür, dass wir sehenden Auges in eine Bildungskatastrophe hinein steuern. Und die Herausforderungen werden nicht kleiner: Wachsende soziale Ungleichheit und ansteigende Migration sorgen für immer mehr Bildungsungerechtigkeit, da die unterschiedlichen Startvoraussetzungen von Kindern unzureichend bis gar nicht nivelliert werden. Für knapp 50% der Kinder, die in Deutschland derzeit in Primar- und Sekundarstufe 1 beschult werden, ist ein anderer Zug, nämlich der in Richtung Bildungserfolg, also schon abgefahren. Ohne eine entschiedene, konzertierte Aktion derer, die in Deutschland politische Verantwortung für Bildung und Familie haben, werden es in fünf Jahren 60, vielleicht 70% sein. 

Leider lässt die derzeitige Dynamik, die die Legislative in diesem Bereich an den Tag legt, nicht darauf hoffen, dass es kurzfristig zu einer solchen Aktion kommt. Im Bund verweist man auf die Zuständigkeit der Länder. In den Ländern verweist man auf die Zuständigkeit der Schulträger. Nicht die besten Voraussetzungen für schnelle Entscheidungen. Dabei gäbe es schnelle Entscheidungen zu treffen, die sofort zu signifikanten Verbesserungen führen würden, da es natürlich bereits privatwirtschaftliche Initiativen gibt, die sich des Problems angenommen haben

So hat das Institut für digitale Bildung LOGmedia in Fröndenberg unter der Schirmherrschaft von Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth und der Digitalbeauftragten Dorothée Bär bereits vor zwei Jahren Software für Sprachstandserhebung im Vorschulalter und Einschulungsscreenings entwickelt. Das cloud-basierte System ist wissenschaftlich geprüft, praxiserprobt und wurde in einigen Städten und Gemeinden schon erfolgreich in den Regelbetrieb überführt. Erstmalig liefert es objektive und vergleichbare Daten für die Bewertung der basalen Fähigkeiten von Kindern, da die Aufgaben und Übungen standardisiert sind. Die Diagnostik und die Festlegung des Förderbedarfs folgen fachlichen Maßgaben aus Sprachheilkunde, (Früh-)Pädagogik, Pädiatrie, Psychologie und Medizin. Obwohl es dieses Produkt gibt, das an Schaltstellen des politischen Apparates durchaus bekannt ist, da es ja im Rahmen einer Initiative des Bundes entwickelt wurde, setzt man in den Ländern weiter auf Vorstellungs- bzw. Interview-Verfahren, in deren Verlauf Pädagog*innen ihre Einschätzung der Kinder in einen Formbogen eintragen. Ohne medizinische Begleitung des Prozesses. Ohne standardisierte Interviewsituationen. Nicht nur, dass die betroffenen Pädagog*innen überfordert sind, da der Prozess wahnsinnig viel Zeit kostet und sie für die notwendige Diagnostik schlichtweg nicht ausgebildet sind. Auch den Kindern wird ein Bärendienst erwiesen, da ihre Chancen auf Bildungserfolg einzig und allein an der „Meinung“ von einer, maximal zwei, Personen hängen. 

Chancengleichheit kann nur entstehen, wenn man dieses Verfahren, das zwangsläufig Ungleichheit befördert, da es weder objektiv ist, noch zur ernsthaften medizinischen Diagnostik taugt, noch die Muttersprache der beurteilten Kinder in ausreichendem Maße berücksichtigt, abschafft. Ein neuer, objektiver Modus Operandi muss her, und das schnellstens. Es mag andere Lösungen geben, als die von LOGmedia. Noch bin ich in meiner Recherche jedoch auf keine gestoßen. 

Es gibt auch andere drängende Themen im Bildungssektor: Personalmangel, Ausbildungsplatzmangel, Studienplatzmangel. Eigentlich mangelt es an allem außer an Gebäuden. Wenn es aber nicht gelingt, die Basiskompetenzen von Kindern bundesweit systematisch zu evaluieren und entsprechenden Förderbedarf datengestützt zu definieren, sind alle weiteren Maßnahmen Makulatur, da keine von ihnen das zentrale Problem in Angriff nimmt: Chancengleichheit in der Bildung herzustellen und somit in Zukunft ausreichend viele Menschen ausreichend gut auszubilden, um die Herausforderungen, die wir nicht nur im Bildungssektor haben, zu meistern. 

Das Brett, das es zu bohren gilt, ist ein dickes. Warum ich trotzdem dabei mithelfen möchte? Aus dem gleichen Grund, aus dem ich in meiner Freizeit Teams United unterstütze: Wenn wir nicht alle Kraft darauf verwenden, allen Kindern die gleichen Chancen zu eröffnen, alles zu erreichen, was sie gemäß ihrer Anlagen erreichen können, ist unsere Gesellschaft am Ende bevor jemand fehlerfrei Emissionsfreiheit buchstabieren kann. Und das wäre ein Jammer. 

Was ich mit diesem Artikel erreichen möchte? Ein Problembewusstsein schaffen, das meines Erachtens noch nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist, Mitstreiter finden, die Türen öffnen, Kontakte knüpfen und Wege ebnen. Die Wege in die deutsche Bildungspolitik mögen unergründlich erscheinen, aber es gibt sie. Da bin ich mir sicher. 

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