Das kleine Haus hinterm Deich: Neuengamme

Sechs Autominuten vom kleinen Haus hinterm Deich gab es ein Konzentrationslager. Das KL oder KZ Neuengamme – je nachdem, wie geschichtskliterisch man unterwegs sein möchte. Neuengamme war das größte Konzentrationslager in Nordwestdeutschland, in das homosexuelle Hamburger, Zeugen Jehovas und Menschen jüdischen Glaubens aus der Region gebracht wurden, um sich selbst durch Arbeit für den deutschen Staat zu vernichten. Es gab da keine Gaskammern. Es gab da keine, unsere Sinne übersteigende, Abfertigung von Millionen von jüdisch-gläubigen Mitbürgern, die fernab von Augen und Ohren unserer guten deutschen (Groß-) Eltern den Tod im Gas und die letzte Ruhe im Krematorium gefunden haben. Ein Krematorium gab es schon. Und es wurde genutzt. Es wurden diejenigen darin verbrannt, die an der Arbeit zerbrochen sind. Die, die durch die unmenschliche Arbeit gestorben sind. Die, die durch Arbeit vernichtet wurden. Im Tod sind alle gleich. Holländer, Deutsche, Belgier, Franzosen, Schweden, Dänen. Das größte Lager Nordwestdeutschlands. Das Lager in dem viele von jenen, die ihre Heimat, viele von jenen, die sich sich selbst, viele von jenen, die ihr Menschsein verteidigt haben, und das Pech hatten, im Norden und Westen Deutschlands zu leben, ermordet wurden. Im Tod sind alle gleich. Über die nicht-tilgbare Schuld, die jeder Deutsche, der seit 1933 geboren wurde und noch geboren werden wird, auf seinen Schultern hat, müssen wir nicht diskutieren. Im Tod sind wir alle gleich. Und doch sind nach wie vor einige gleicher. Warum ist das so?

Ich möchte mehr Schuld auf unsere Schultern laden. Wir tragen viel zu wenig davon. Viele mögen das Gegenteil behaupten. Weil es einfacher ist. Das wohlfeile Konzept von “wir haben das alles nicht gewusst.” Das wohlfeile Konzept von “ wir hätten, wenn wir gekonnt hätten”. Das ist hohles Blabla. Unsere Großeltern haben es gewusst. Sie wussten was passiert. Sie haben gesehen, wie ihre Nachbarn, ihre Freunde, abgeholt wurden, um zu sterben. Sie haben miterlebt, wie der Laden um die Ecke geschlossen wurde, wie das Piano im Zweiten plötzlich nicht mehr Schumann spielte, weil Eva, Esther, Stefanie oder wie auch immer das kleine Mädchen von oben hieß, das ihnen bislang akustisch den Abend versüßt hatte, nicht mehr spielen konnte. Sie wussten, dass Eva, Esther und Stefanie nie wieder zurückkommen. Sie wussten, dass sie unten keine Kurzwaren, Fleisch und Milchprodukte mehr kaufen können, da der gelbe Stern “geschlossen für immer” bedeutet. Sie haben mitbekommen, dass ihre männlichen Nachbarn, die lieber Herren-, als Damenbesuch empfangen haben, plötzlich verschwunden sind. Sie haben mitbekommen, dass Nachbarn, die – weder Protestanten, noch Katholiken – trotzdem irgendwie Christen waren, auch wenn sie Gott Jehova genannt haben und Bluttransfusionen per se Scheiße fanden, von einem auf den anderen Tag nicht mehr da waren. 

Sie haben mitbekommen, dass Menschen, die holländisch, französisch, flämisch, dänisch sprachen in Güterwaggons durch ihre Dörfer gerollt sind. Jeden Tag. Güterwaggons, deren Türen nicht zu gingen, da der physische Widerstand der Ladung zu groß war. 

“Wir hätten die Luke gern zu gemacht, aber die 400 Frauen und Kinder da drin lassen es leider nicht zu. Gleiches gilt für den nächsten Waggon. Lasst uns Stacheldraht vor alle Luken nageln, damit keiner rausspringt und uns auf den Sack geht. 

In direkter Nachbarschaft des Konzentrationslagers Neuengamme stehen Bauernhöfe, die weit vor Errichtung des KZ gebaut wurden. Sie stehen in Sichtweite. Sie stehen an der Grenze des Lagers. Das Lager steht nicht in Ostpreussen. Das Lager steht nicht in einem mückenverseuchten Sumpf in Polen (aka ebenfalls Ostpreussen in diesem Fall). Das Lager steht auf Hamburger Stadtgebiet. Das Lager hat 144.000 Menschen verbraucht, um Ziegel, Waffen und Schiffe zu bauen. 

Ich war ganz allein, als ich über das riesige Gelände gelaufen bin, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was passiert ist. Ich war zu Schulzeiten nicht in Auschwitz, nicht in Birkenau gewesen. Ich wollte meine Schuld erfühlen. 

Ich hatte damit gerechnet, dass das Böse, das geschehen ist, nachwirkt. Ich hatte damit gerechnet, dass ich die Toten spüre. Habe ich nicht. Ich habe etwas anderes gespürt. Ich habe die Effizienz gespürt, mit der an diesem Ort über 50.000 Menschen ermordet wurden. Ich habe die zutiefst deutsche Effizienz gespürt, nach der das Werkzeug, das in die Elbe fällt, wertvoller ist, als der Arbeiter, der es hält. Ich war überwältigt von der deutschen Effizienz, in der man innerhalb von drei Jahren eine Ziegelei, einen Elbhafen, zwei Waffenfabriken, ein Krematorium, ein TBC-Versuchslabor, ein Gefängnis, einen Puff, einen Friedhof für Zwangsprostituierte, einen Lustgarten für Offiziere und genug Garagen für alle Mercedes’, Maybachs, BMWs und VWs gebaut hat, die auf dem Gelände unerlässlich waren, um den verweichlichten Mädels und Jungs, die an herumstehenden Loren festgeeitert waren, im Vorbeifahren ein wenig Respekt einzupeitschen.

Das Konzept des Konzentrationslagers in Neuengamme war “Vernichtung durch Arbeit”. Auf Vernichtung durch Arbeit fusst unsere Volkswirtschaft. Wir alle hatten unverschämtes Glück, dass die Frage nach den Außenlagern bei Blohm & Voss, Varta, BMW und Thyssen nie hinreichend untersucht wurde. Mein Vater hat bei Krupp, später bei ThyssenKrupp gearbeitet. Der Umsatzbringer waren nie die Krane, die Brücken oder die Spundwände. Der Umsatzbringer waren immer die Panzer und Flugzeuge. Der Arbeitsbringer war die Effizienz mit der wir Deutschen in der Lage sind, Güter zu produzieren, die eine maximale Wertschöpfung für uns garantieren. 

Die Hamburger wussten genau was ging. Sie wussten, dass Blohm & Voss nur mit Zwangsarbeitern funktionierte. Die Menschen in Dortmund wussten das, die Menschen in München wussten das. Sie haben es hingenommen. Damit, dass sie es hingenommen haben, haben sie den Boom der Deutschen Wirtschaft möglich gemacht. Unser Wohlstand fußt auf Leichen. Unsere vermeintliche Überlegenheit gründet sich auf Westmächten, die gezwungen waren, den Kram am Laufen zu halten.

Es ist an der Zeit, dass wir zurückzahlen. Nicht den Alliierten. Nicht der EU, sondern all den Menschen, die gerade verletzt und vertrieben von unseren Waffen versuchen, ein neues Leben in Europa zu beginnen. 

Wir sollten nicht die Türkei vorschicken, wir sollte nicht Griechenland vorschicken. Wir sollten endlich raffen, was “deutsch-sein” bedeuten muss: Deutsch-sein muss bedeuten, das Völkerrecht gegen alle Gegner zu verteidigen. Deutsch-sein muss bedeuten, seiner Verantwortung in der Mitte Europas gerecht zu werden. Ein Konzept dafür zu entwickeln, nicht mit dem Tod, sondern mit dem Überleben von Menschen, eine Volkswirtschaft zu stärken.

Nach wie vor verdient jeder Deutsche daran, dass Menschen woanders sterben. Das tun wir seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ich für meinen Teil möchte das nicht mehr. Ich denke, keiner von uns muss das.

Wir können viel größer sein. Wir können das Leid in der Ägäis beenden. Wir können gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarstaaten fröhlich lachend auf alle Neo-Faschisten kacken. Wir können Flüchtlinge gemäß der Charta der Vereinten Nationen behandeln und nicht von Frontex-Schiffen versenken lassen. Wir können allen armen Seelen auf Lampedusa und in Moria Essen, Obdach und Wasser zuteil werden lassen, ohne dass es uns auch nur einen Deut schlechter geht. Wir können so vieles erreichen, was gut ist. Nicht, um wiedergutzumachen, was wir verkackt haben, sondern um uns selbst gerecht zu werden. 

Vorreiter in Europa ist heute der, der dem Massensterben auf der Ägäis ein Ende bereitet. Vorreiter in Europa ist der, der die neofaschistischen Nicht-Denker zurückdrängt. Vorreiter in Europa ist der, der einen überforderten Wirtschaftsminister davon entbindet, fragwürdige Waffenexporte zu Gunsten der Regierungsbilanz durch zu winken. Vorreiter in Europa ist der, der gar nicht mehr über Waffenexporte nachdenkt, weil es höhere Ziele gibt. 

Ich schäme mich dafür, dass ich auf dem Ticket mitgefahren bin. Der Lichtblick: Wir können es nur besser machen. 

“Vergiss das Materielle, vergiss den Job, vergiss Mercedes Benz, diese Welt ist in den Miesen und vor allem braucht  sie mal ne Entscheidung. Und was sie auch braucht, ist die Liebe von allen, da bin ich total deiner Meinung.” (SMUDO)

2 Gedanken zu “Das kleine Haus hinterm Deich: Neuengamme

  1. Ich war auch noch nie in einem KZ, will ich mir aber noch antun. Ich hab echtBammel davor. Ich habe für eines meiner Bilder eine Frau interviewt, die das KZ überlebt hat. Ein paar wenige Schilderungen haben gereicht. Um zu verstehen. So wie du verstanden hast. Dein Text ist klasse. Man fühlt deine Ergriffenheit, deine Wut. Es ist genau wie du schreibst. Ganz genau. ,Jede Zeile. Jedes Wort passt. Danke

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