Short Cuts: Sous le ciel de Paris (Dichter #1)

Ihr süßer Duft lag noch immer in den zerwühlten Laken. Er drückte sein Gesicht tief in die warmen Kissen und sog sie in sich auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sie fortgegangen war. Vor einer Stunde, gestern oder letzte Woche – er wusste es nicht. Spielte es überhaupt eine Rolle? Was spielte schon eine Rolle? Er drehte sich auf den Rücken und sah zum Fenster hinauf. Der schwüle Sommerwind verführte die leichten Taftvorhänge zu verwegenen Tänzen. Er umgarnte sie mit den exotischsten Gerüchen von Kardamom und Curry, Kirschblüten und Ingwer. Gerüche aus einer anderen aufregenden Welt. Der Frühling hatte sich über Nacht in die Straßen von Montmartre geschlichen. Paris erwachte aus seinem Winterschlaf. Stimmen plapperten aufgeregt durcheinander und die Hufe der Pferde, die die großen mit Obst, Gemüse und Fisch beladenen Karren zum Markt zogen, schlugen beschwingt auf das geduldige Pflaster. Das alles klang wie Musik in seinen Ohren. Der Frühling war ein Chanson, ein Lied getränkt von bedingungsloser Liebe, grenzenloser Lust und lustvoller Liebe am Leben. Er machte seltsame Dinge mit dieser Stadt und den Menschen, die in ihr lebten. Au revoir tristesse, bonjour l’amour. Wieder kehrten seine Gedanken zu dem Mädchen zurück. Er hatte sie in einer der kleinen Kneipen unweit des Boulevard de Clichy kennen gelernt. Ihr Name war Martinique, Madeleine oder Monique. Er konnte sich nicht erinnern. Sie hatten viel Pernod getrunken und noch mehr gelacht, hatten in einer Nacht die ganze Welt bereist. Ihr Lachen hatte so hell und klar geklungen, wie der Flügelschlag einer Elfe, ihre Berührungen waren so zärtlich gewesen, wie der Wind, der den Morgentau von den Gräsern der Provence pflückt. In seinem kleinen Zimmer am Place du Tertre hatten sie sich einander hingegeben. Sie waren eins geworden, le poèt et la putain, der Poet und die Hure. Er hatte sich in ihr verloren und wiedergefunden, war in ihren Armen gestorben, um von ihren weichen Lippen wieder zum Leben erweckt zu werden. Trunken von Rotwein und Leidenschaft hatten sie sich nichts versprochen und doch alles bekommen, was sie gesucht hatten. In ihr hatte er sich geborgen und doch schutzlos gefühlt. Er hatte seine Macht gespürt und war der ihren doch wehrlos ausgeliefert gewesen. Obwohl der Dichter schon lange den Glauben aufgegeben hatte, dass er den Himmel zwischen den Schenkeln einer Frau finden würde, ließ ihn die Faszination, der Reiz des Unerklärlichen, die schamlos aufblitzende Idee des Göttlichen nicht los. „Hymne a l’amour“  – der Dichter spähte aus dem Fenster. Auf dem gegenüberliegenden Balkon saß eine alte Frau neben einem Kofferradio. Sie bewegte ihre Lippen zu der Stimme der Piaf. Ihre Augen waren geschlossen, so schien es. Nur zu gern hätte er einen Blick in ihre Seele riskiert, um an dem teilzuhaben, was ein so verträumtes Lächeln auf ihr runzliges Gesicht zauberte. Vielleicht dachte sie an ihren Liebsten, der viel zu früh von ihr gegangen war. Sie würde ihn immer in ihrem Herzen behalten, würde sich an die gemeinsamen Stunden, Tage, Jahre erinnern, wenn sie ihrem Lied lauschte. Sie dachte an die Brasserie, in der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. An den ersten Kuss, ihre Verzweiflung, als er in den Krieg ging und die Freudentränen, als er wohlbehalten zurückkehrte. In dieser Nacht hatten sie ein Kind gezeugt. Ein Mädchen, das inzwischen erwachsen war und sie nur selten besuchte. Die alte Frau –  sie hieß vielleicht Martinique, Madeleine oder Monique – hatte das Leben in all seinen Facetten erlebt, alle Höhen und Tiefen durchstanden, gelacht, geweint, geflucht und getanzt. Sie hatte alles gewonnen und alles wieder verloren – und doch schien sie glücklich zu sein. Glücklich auf ihrem Balkon zu sitzen und in der Musik zu versinken, sich ihren Erinnerungen hinzugeben und noch einmal zu spüren, was längst vergessen schien.

Der Dichter schreckte jäh auf seinen Betrachtungen auf, als er bemerkte, dass die alte Frau ihre Augen geöffnet hatte. Sie sah ihn an, und er erkannte, dass er Recht gehabt hatte. Ihr Leben lag vor ihm wie ein offenes Buch. Er konnte sie sehen, wie sie am Gare du Nord ihren Mann widerwillig in den Krieg verabschiedete, sich mit einem blütenweißen Taschentuch die Tränen trocknete und ihm noch nachwinkte, als der Zug den Bahnhof längst verlassen hatte. Der Dichter konnte ihren Schmerz und ihre Verzweiflung spüren, ihre Unsicherheit, ob sie ihren Liebsten jemals wiedersehen würde. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Liebe, wie eine warme weiche Woge des Glücks. Dieses Gefühl war stärker als alles, was er bisher empfunden hatte. Er wollte hinüber laufen zu ihr, sie in seine Arme schließen und nie wieder loslassen. Er wollte ihr der sorgende Mann und der verlorene Sohn zugleich sein, wollte sie vor allem Leid beschützen und jedes noch so kleine Glück mit ihr teilen. Der Dichter versenkte sich in ihren Blick und ihm wurde klar, dass die Jahre des Suchens vorbei waren. Er hatte den Himmel gefunden. In den Augen einer Frau hatte er den Himmel gefunden. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete er die Balkontür und trat hinaus. Er zitterte am ganzen Körper, war nervös, wie ein Schuljunge. Seine Lippen waren plötzlich ganz trocken und ihn befiel ein seltsam schönes Schwindelgefühl. Sie sah noch immer zu ihm herüber. „Oh, mein Gott, diese Augen!“ Rastlos pochend pumpte sein gieriges Herz die Liebe Liter für Liter aus den Lenden in seine Seele. Seine schweißnassen Hände umklammerten Halt suchend das alte schmiedeeiserne Balkongeländer. Er verzehrte sich danach, ihr nahe zu sein, zu fühlen, was sie empfand, zu wissen, was sie erfahren hatte. Er streckte seine Hand nach ihr aus, beugte sich weit über die Brüstung, hoffte, betete und verfluchte sich schließlich, wohl wissend, dass sie ihm unerreichbar war. Er sah zu ihr hinüber. Als sein flehender Blick dem ihren begegnete, traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb. Hilflos taumelnd wich er zurück. Er suchte nach Halt und stolperte. Er versuchte, zu Atem zu kommen, doch seine Lungen versagten ihm den Dienst. Er wollte schreien, doch nur ein heiseres Röcheln kroch träge seine Kehle hinauf. Die alte Frau hatte in seine Seele gesehen. Als der Dichter in sie hinabgestiegen war, hatte er sich ihr geöffnet. Sein Leben lag vor ihr, wie ein offenes Buch. Sie konnte ihn sehen, wie er des Nachts durch die Straßen von Montmartre irrte, sich betrank und Trost und Wärme bei den Straßenmädchen suchte. Sie konnte seinen Schmerz und seine Wollust spüren, seine Angst und seine unstillbare Gier. Sie erkannte die Hure in ihm, den gefallenen Engel, den Judas, den Götzenanbeter. Jedwedes Glück war aus ihren Zügen gewichen. Was blieb, war die Verzweiflung. Sie stand auf und wandte sich von ihm ab. Kraft- und hoffnungslos sackte der Dichter in sich zusammen. Er weinte und er schluchzte, wollte ihren Namen rufen, doch er wusste ihn nicht. Wahrscheinlich war er Martinique, Madeleine oder Monique.

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